SAGENHAFTES aus dem Weinviertel und den anderen Vierteln dieser Welt

  • Wo ist das Blau der Donau hingekommen?
  • Welche Lieder hat der Sänger Blondel in Dürnstein wirklich gesungen?
  • Wo ist der Nordturm der Wiener Stephanskirche geblieben?
  • Was hat die Venus von Langenzersdorf mit dem Wein zu tun?
  • Was erlebten Soldaten Napoleons in einem Pulkauer Weinkeller?

Siebenundzwanzig fantastische an sagenhafte Orte oder Personen angebundene Geschichten geben auf unterhaltsame Weise Antwort auf diese Fragen und bringen neues Leben in die Sagenwelt:

Die Venus von Encinstorf, Der Rattenfänger von Neuburg, Der Heilstein von Maissau, Der Lindwurm,  Jingle Bells, Die Weintaufe zu Pulkau, Die Bischofsmütze, Ein echter Stierwascher, Das böse Weibele, Pygmalia, Friedl und der Birnbaum auf dem Walserfeld, Die Münze vom Sandberg …

    

   

Gefördert vom Land Niederösterreich und von der Marktgemeinde Langenzersdorf  

LESEPROBEN:

Pygmalia                                                                                                                                                                     

Emmi ist eigentlich nicht unhübsch. Sie ist auch noch nicht wirklich alt. Ihre Katzen haben es gut bei ihr. Sie lieben es in der gemütlichen Wohnküche in der Nähe des Backofens den Tag zu verschlafen. Manche von Emmis Freundinnen meinen, Emmi hätte ihr ganzes Leben verschlafen. Das ist aber ein hartes Urteil, das sich Emmi nicht verdient hat. Was kann sie dafür, dass sie nie den richtigen Mann kennengelernt hat! Genaugenommen hat sie aber nicht einmal den falschen kennengelernt. Schon das Wort Männerbekanntschaft hat für sie etwas Anrüchiges an sich. Und anrüchig will sie nicht sein. Wenn es in ihrer Küche nach etwas riechen darf, dann nach Lebkuchen. Nicht nur in der Weihnachtszeit, nein auch im luftigsten Frühling, im heißesten Sommer und im windigsten Herbst zieht ein wunderbar warmer, zimtiger Duft nach Lebkuchen durch das ganze Haus. Und dieses Haus steht, das sollte an dieser Stelle erwähnt werden, irgendwo im Weinviertel. Ich sage irgendwo, weil es eigentlich nichts zur Sache tut, ob es in Röschitz steht oder in Ulrichskirchen. Es geht ja um Emmi, nicht ums Haus. So gut ihre Lebkuchen duften, so gut schmecken sie auch. Und da haben wir noch nicht von ihrem Aussehen gesprochen. Emmis Lebkuchenherzen sind ohne Zweifel die lieblichsten der ganzen Region, ihre Lebkuchensterne leuchten aus allen anderen hervor, aber was auch nicht promovierte Psychologen auf den ersten Blick bemerken würden, ist die Tatsache, dass ihre Lebkuchenmänner besonders liebevoll gestaltet sind. In ihre Zuckergusskleidung, in ihre Zuckergussfrisur investiert Emmi viel Zeit. Aber am wichtigsten ist ihr die feine Zeichnung ihrer Gesichtszüge. Es ist erstaunlich, wie viele verschiedene Ausdrücke eine Frau einem Mann mit Hilfe eines Spritzsackes verpassen kann. Manche von Emmis Männern lächeln zurückhaltend, manche mit hilfloser Freundlichkeit und andere wieder respektvoll staunend. Aber alle sind sie lieb zu ihrer Emmi.

In der Kunstgeschichte gibt es ein bemerkenswertes Phänomen. Es hat sich nämlich schon so mancher Künstler in sein eigenes Werk verliebt. Warum sonst hat Leonardo da Vinci seine Gioconda jahrelang mit sich herumgeschleppt? Und wie war das seinerzeit mit Ovids Pygmalion und dessen Elfenbeinstatue? Es war genauso wie mit unserer Emmi und ihrem Prinzen. Eines Tages hatte sie nämlich einen Lebkuchenmann zu einem Prinzen verzuckert, gegen den Prinz William eine Vogelscheuche war. Sein Lächeln verzauberte sie, seine Schönheit ließ das Blut in ihren Adern kochen. Nach seiner Fertigstellung hatte er zwar einen festen Platz in ihrem Herzen, nicht jedoch in ihrem Haus. Da sie sich kaum von ihm trennen konnte, trug sie ihn dauernd mit sich, damit er immer an ihrer Seite sein konnte, beim Lesen, beim Kochen und erst recht beim Schlafen.

In der sogenannten High Society gibt es ein ganz anderes Phänomen. Obwohl man in royalen Kreisen auf Benehmen höchsten Wert legt, obwohl man den Prinzessinnen und Prinzen, zumindest nach Meinung der royalen Kreise, die beste Erziehung angedeihen lässt, benehmen sich manche von ihnen verhältnismäßig schlecht, das heißt, in ihren diversen Verhältnissen mäßig. Man sollte es nicht glauben, aber so war es auch bei Emmis Prinzen. Kaum war sie eines Abends eingeschlafen, und kaum war sie im Träumeland eingetroffen, traf sie auf ihn. Er ging eine belebte Straße entlang, blieb hin und wieder an einer Auslage stehen und schien sich sehr für die dort angebotenen Dessous zu interessieren. Er hatte Emmi noch nicht bemerkt, benahm sich also total ungezwungen. Ein Zigarillo klemmte im Mundwinkel, ein breitkrempiger Hut saß schief auf seinem Kopf, in der rechten Hand drehte er dandyhaft einen schwarzen Gehstock. Konnte das ihr Prinz sein? Zweifellos, da war sie sich ganz sicher, er war es. Wenn jemand seinen Körper kannte, dann war sie es. Kaum kam ihm eine junge Frau entgegen, wurden seine Bewegungen lasziv. Er musterte ihre Figur von unten bis oben und wieder bis unten und war sie endlich vorbei, blickte er ihr in einer Weise nach, wie man es beim Elmayer sicher nicht beigebracht bekommt. Und sein Grinsen, das er dabei aufsetzte, musste man lüstern nennen. Emmi war entsetzt. So einer war das also! Sie ging ihm in sicherem Abstand nach. Sie wollte mehr sehen. Und sie sah. Der Prinz steuerte einen Vergnügungspark an, trank im Stehen ein U-Boot, also ein Krügerl Bier, in dem ein Stamperl Obstler versenkt wurde, verschlang im Vorbeigehen eine Burenwurst mit Ketchup, ging dann mit seinen fettigen Fingern zu einer Baracke, auf der in riesigen Lettern >Peep Show< stand, und betrat den Schuppen mit unverhohlener Vorfreude. Das war Emmi dann endgültig zu viel. Mit einem wütenden Schrei sprang sie aus dem Bett, stürzte sich auf den Prinzen, der in seiner ganzen Falschheit, wie wenn nichts geschehen wäre, am Nachtkästchen lag, und biss ihm den Kopf ab.

Wo das Blau der Donau hingekommen ist                                                                                                                

Vor gar nicht langer Zeit, als der alte Kaiser noch unser Land regierte, lebte an der schönen blauen Donau ein Mann. Er war Sänger, Fischer, Koch und Wirt und hörte auf den Namen Alois. Man konnte sicher sein, in seinem Gasthof frischen Fisch zu bekommen, es sei denn eine dicke Eisschicht bedeckte die Donau zwischen Marbach und Pöchlarn, dann natürlich nicht. Und er verstand es diesen frischen Fisch zuzubereiten wie kein Zweiter. Vom Garten seines Gasthauses hatte man einen wunderbaren Blick auf das Donautal, sodass es sich schon allein wegen der Aussicht lohnte bei Alois zu essen. Ein Gläschen Wein zum Fisch und man hätte meinen können, im Vorgarten des Himmels zu sein. Alois war ohnedies dieser Ansicht. Er hatte schon die Donau bei Wien gesehen und die bei Linz, aber diese ließen sich mit seiner nicht vergleichen. An wolkenlosen Sommertagen, wenn er beim Fischen am Ufer stand, war ihm das Blau ihres Wassers Stille und Ruhe, Entspannung und Gelassenheit. Der immerwährende, nicht nachlassende Strom, das andauernde Säuseln das Bodensandes, welches sich untrennbar mit dem Plätschern der Wellen verband, ließen Alois die Weite der Welt ahnen. Er schaute den Wellenbergen nach, diesen immer wiederkehrenden Erhebungen aus Wasser, und fühlte eine unbestimmte Sehnsucht nach Ferne und Freiheit. Sein Leben war aber hier verankert. Hier lebte seine Familie, hier stand sein Gasthof, hier floss seine Donau so blau. Die Stunden an ihrem Wasser erfüllten ihn mit Freude. Sein Glück fand er jedoch nicht beim Fangen der Fische, es hatte auch nichts mit den Trophäen zu tun und es lag auch nicht im kulinarischen Genuss. Der wahre Ursprung seines Glückes war Marianne, seine junge Frau.

Die Gäste seines Hauses schätzten an Alois aber noch eine andere Seite. Er war ein guter Sänger. Seine ausdrucksstarke Stimme füllte bei besonderen Anlässen seine Wirtsstube genauso wie im Alltag die Küche. Er sang den ganzen Tag, manchmal laut, manchmal leise, aber innerlich sang er immer. Ein Lied hatte es ihm besonders angetan.

Donau so blau                                                                   Durch Tal und Au

Dieses Lied passte auf sein Leben wie kein anderes.

Weit vom Schwarzwald her
Eilst du hin zum Meer,
Spendest Segen
Allerwegen
Ostwärts geht dein Lauf,
Nimmst viel Brüder auf:
Bild der Einigkeit
Für alle Zeit.

Der Obergerichtsrat Dr. Franz von Gerneth hatte vor kurzem den Johann Strauss-Schlager aus den Sechzigerjahren mit einem neuen Text versehen und erstmals singbar gemacht. Der ursprüngliche Kasperl-Text war ja eine Beleidigung der Sinne. Aber dieses schöne, neue Lied hatte Alois oft auf den Lippen. Ihn begeisterte der besondere Aufbau dieses Liedes. Sein geübtes Ohr unterschied zehn verschiedene Melodien. Und alle klangen hier, an der schönen blauen Donau, wie für diese Landschaft komponiert, dabei hatte Strauss sie alle aus früheren Kompositionen entlehnt.

Dein silbernes Band
Knüpft Land an Land,
Und fröhliche Herzen schlagen
An deinem schönen Strand.

Waren er und Marianne diese fröhlichen Herzen am schönen Strand? Das Lied schien wie für sie geschrieben. Schon vor ihrer Hochzeit hatte sie ihn manchmal in seiner Zille begleitet, wenn er hinaus gefahren war zum Fischen in der Strommitte. Wohin das Wasser wohl strebte? Wo lag sein Ziel? Und dann fühlten sie beide die unendliche Weite und träumten von fremden Ländern.

Das Schifflein fährt auf den Wellen so sacht,
Still ist die Nacht, die Liebe nur wacht,
Der Schiffer flüstert der Liebsten ins Ohr,
Dass längst schon sein Herz sie erkor.

Franz von Gerneth schien sie beide gekannt zu haben, weil seine Verse so genau auf sie passten. Alois hatte tatsächlich mitten auf dem Fluss das erste Mal von Hochzeit gesprochen. Zuerst ganz allgemein, so als ob er nicht Marianne und sich meinte. »Es muss eigentlich schön sein, eine Familie zu haben«, hat er ganz beiläufig gesagt, »ein, zwei Kinder.« Er hatte nicht laut gesprochen. Seine Worte hatten die Geräusche der Donau kaum übertönt. Er war aber sicher, dass sie sehr wohl verstanden hatte, denn nach diesen Worten war sie irgendwie anders. Sie hatte etwas zu denken. Mag sein, dass sie ohne seine Worte fort gegangen wäre, nach Wien vielleicht. Als Frau war das aber kaum möglich, so ganz alleine. Aber so?

Ein Jahr danach waren sie verheiratet. Alois hatte nicht lange werben müssen. Mariannes Eltern waren von ihrem Schwiegersohn begeistert, seine Eltern hatten Marianne sofort ins Herz geschlossen. Alois und Marianne galten als ideales Paar. Sie war ausgesprochen hübsch und er richtig fesch, nicht nur in der Tracht am Tag der Hochzeit. Als Wirt eines gutgehenden Hauses war Alois eine gute Partie und manches Mädchen sah sich am frischvermählten Paar ein Leid. Marianne und Alois trugen ihr junges Glück aber nicht vor sich her. Sie führten ihren Gasthof, waren angesehene Mitglieder der Dorfgemeinschaft, sangen in diversen Chören, auch sie hatte eine nette Stimme, und schienen einen vorgezeichneten Lebenslauf zu haben. Aber wie heißt es am Ende des Liedes?

Und zum Schluss bringt noch einen Gruß
Uns’rer lieben Donau, dem herrlichen Fluss!
Was der Tag uns auch bringen mag
Treu und Einigkeit
Soll uns schützen zu jeglicher Zeit
Ja Treu und Einigkeit!

Das Blau des Himmels spiegelt sich an wolkenlosen Tagen im Wasser und bringt damit gewissermaßen den Himmel auf die Erde. Und das Blau steht, wie man weiß, für Treue und Einigkeit, ist aber gewiss keine Garantie dafür. Wie oft hat wohl Alois in der letzten Strophe diese Bedingungen für das eheliche Glück, für den Schutz im ehelichen Alltag, besungen? Aber was sind schon Worte?

Eines Tages kam ein Reisender ins Dorf. Man zeigte ihm den Weg zum Gasthof. Er nahm sich ein Zimmer, genoss die von Alois zubereiteten und von Marianne servierten Speisen, sprach dem Wein ordentlich zu und erzählte in der Gaststube von der Welt, wie er sie kennenlernen durfte. Er beschrieb das blaue Meer um Capri, die Blaue Grotte und den azurblauen Himmel über diesem fernen Eiland. Marianne war sofort gefangen. Sie kannte ihre Welt auch gut, diese lag aber zwischen Wieselburg und Melk, kaum einmal war sie darüber hinaus gekommen. Die Erzählung dieses charmanten, weltmännisch auftretenden Fremden, seine vor sich her getragene Begeisterung fürs Reisen verzauberte sie schnell. Auch so können Worte wirken. Der Fremde blieb nicht lange Gast im Hause. In dieser Zeit benahm er sich aber ausnehmend schlecht. Und als er wieder abreiste, nach Italien, wie er sagte, war er nicht mehr alleine. Marianne war ihre Welt zu klein geworden.

Und Alois? Der fiel aus allen Wolken. Die Sonne schien nicht mehr über seiner Donau. Das Wasser war grau geworden. Was immer die Leute auch sangen, das Wasser war trüb und grau. Für seinen Gasthof fand er einen Käufer. Seine Angelruten stellte er ins Eck. Ob er jemals wieder gesungen hat, ist nicht bekannt. Gehört hat ihn niemand.

Blondels Lieder- Vorwort

Richard I., genannt Löwenherz,

war von 1189 bis zu seinem Tod König von England. Hierzulande war er als Anführer der Truppen bekannt, welche zur Rückeroberung Jerusalems gegen die Truppen des Sultans Saladin ausrückten. Ein herausragendes Ereignis dieses Dritten Kreuzzugs war die Eroberung Akkons, bei der es zu einem folgenschweren Eklat kam. Richard brüskierte Leopold von Österreich, als er dessen Standarte in den Burggraben werfen ließ und damit dessen Beuteanspruch zunichte machte. Das, aber nicht nur das, hatte Richards Gefangennahme bei seiner Rückreise zur Folge. Diese war zwischen Kaiser Heinrich VI. und König Philipp II. August von Frankreich abgesprochen. In Kärnten wurde Richard, der sich als Pilger ausgab, erkannt. In Bruck an der Mur fiel er wieder aus seiner Rolle, als er sich für einen Pilger auffallend benahm. In Erdberg, damals ein Vorort von Wien, fasste man ihn endlich. Er wurde Leopold vorgeführt und zu Hadmar von Kuenring nach Dürnstein gebracht. Aus standesrechtlichen Gründen durfte Leopold den König von England aber nicht gefangen halten. Dieser wurde daher 1193 in Speyer an den Kaiser ausgeliefert, der ihn auf die Burg Trifels überstellen ließ.

Gegen dieses Drama aus Intrige, Verrat, Demütigung, persönlicher Animosität und Machtstreben der realen Geschichte, verhält sich die nachstehende Erzählung aber wie das Gähnen einer Maus zum Brüllen eines Löwen.

Was den Sänger Blondel betrifft,

so sind sich die Erzähler nicht einig, ob er auf der Suche nach seinem Freund und König wirklich alle Burgen im Heiligen Römischen Reich abklapperte, ob er auf Burg Dürnstein, welche auch immer gemeint sein kann, sang, oder auf dem Trifels, ob ihm Richard aus einem winterlich eisigen Kerker antwortete oder aus einem wohlig warmen Gemach, ob der König von England gewaltsam befreit wurde oder nach einer Lösegeldzahlung frei gelassen wurde. Oder, was bei Sagengestalten gar nicht so selten ist, ob Blondel nie das Licht dieser Welt erblickte.

Die folgende Version scheint noch die wahrscheinlichste zu sein.

Blondels Lieder                                                                                                                                                                            

In the Kellerstreet                                                                                                                                       I cannot believe it,
I sit all alone                                                                                       on a stone.

Er wusste, dass das nicht der Originaltext war. Aber sein Deutsch war nicht gut genug, um sich alle Verse zu merken, die dieser traurige Gentleman in unsagbar weinerlicher Manier gesungen hatte.  Aber den Tonfall hat er gut getroffen, was allerdings nicht nur an seiner Sangeskunst lag. Es lag vor allem daran, dass er haargenau in der gleichen Stimmung war wie dieser Herr, der mitten in Ertpurch, einem Vorort von Wenia, auf einem Stein am Straßenrand saß und Tränen in seine Worte tropfen ließ.

Glaubst denn du mein Steinderl,                                                                                  du mein liebes Freunderl,
das kommt nur vom Weinderl                                                                                                                                  ganz allein?

No, dear Richard,  sang Blondel leise mit,                                                                                                                   it comes from my heart,                                                                                            only from my heart.

In the Kellerstreet,                                                                                                               I cannot believe it,
I sit all alone                                                                                                                                
on a stone.

Nun all alone war er, wenn man den weinerlichen Gentleman mitzählte, zwar nicht, aber einsam war er für zwei. Blondel seufzte. Er hatte es ja kommen sehen. Schon als sie in diesem Dorf südlich der Alpen aufgeflogen waren, als sie nur mit Glück noch einmal entkommen waren, hatte er dieses böse Ende befürchtet. Richard hätte Leopold bei Akkon nicht demütigen dürfen. Jeder Herrscher hatte seine Ehre, jedes Heer hatte seine Ehre. Es wäre nichts dabei gewesen, ihm einen gerechten Anteil zu überlassen. Die Kriegsbeute war doch nicht das Wesentliche an diesem Kreuzzug. Jetzt würden sie dafür büßen müssen. Jetzt, da sie durch Leopolds Land ziehen mussten, könnte ihnen das auf den Kopf fallen. Ja, das hatte er gedacht und genauso war es gekommen. Gerade als König Richard beim Dinner saß, bei fettem Bauchfleisch, gutem Brot und überraschend gutem Wein, kamen sie hereingestürmt. Sie packten seine Majestät, sie packten den König fester, als es nötig gewesen war. Niemals hätte sich Richard mit Landsknechten geprügelt. Er forderte sie sogar auf, ihn zu ihrem Kommandanten zu führen, was sich allerdings als überflüssig erwies, da dieser schon mitten im Raum stand und seinen Triumph auskostete. Das war das Letzte, was Blondel von dieser Szene mitbekam. Ihn hatten sie gar nicht zum englischen König gehörig wahrgenommen, da er gerade dabei war, dem Wirt beim Auftragen weiterer Speisen zu helfen. Durch ihre Kleidung waren sie bestimmt nicht aufgefallen. Vermutlich hatten sie die Münzen verraten, die sie am Vormittag einem Händler angeboten hatten. Es waren Geldstücke, die es hierzulande bestimmt nicht oft zu sehen gab. Das war ihr verhängnisvoller Fehler gewesen. Blondel ist dann einfach langsam hinter dem Wirten aus dem Raum gegangen und dann ebenso langsam aus dem Haus, die Straße entlang, bis er unter all den anderen Leuten nicht mehr auffallen konnte. Und dann stand er plötzlich vor diesem nach Wein duftenden, trübsinnigen Sänger und setzte sich zu ihm.

Was Blondel damals noch nicht wissen konnte, Wein ist für die Österreicher das Substantiv zum Verbum „Weinen“, für manche sogar der Imperativ. In den nächsten Tagen sollte sich aber sein Wissensstand ändern. Er wollte nicht auffallen und trieb sich daher an Orten herum, an denen die Einheimischen den vergorenen Traubensaft verkosteten. Er setzte sich an einen Tisch, blickte mit hängendem Kopf stumm auf die Tischplatte und weinte in seinen Wein. Niemand beachtete ihn. Aus Mitgefühl. Und dort lernte er ihre Lieder kennen. Es wird ein Wein sein und mir wern nimma sein – war noch das lustigste, was immer es bedeuten mochte. Blondel war vor dem Kreuzzug schon weit in der Welt herumgekommen und hatte auf seinen Reisen im Norden Deutschlands, dort wo schon viele englische Musiker aufgetreten waren, einige Brocken Deutsch gelernt. Aber was die Österreicher in ihren Trinkstuben erzählten, blieb ihm ein Rätsel. Er vermutete, dass sie über die Verhaftung seines Freundes und Königs sprachen, da er immer wieder Löwenherz hörte, den Ehrennamen Richards, und Leopold, den Namen des österreichischen Herzogs, dessen unversöhnlichen Waffenbruders.

Aber wo konnte Richard Löwenherz jetzt sein? Wo konnte ihn Leopold gefangen halten? In einer befestigten Anlage natürlich, in einer Burg. Davon gab es in diesem Land allerdings viele. Die weinseligen Genießer zu fragen war vermutlich nicht zielführend. Womöglich würden sie ihn auch festhalten, dann wäre alles aus gewesen. Blondel musste lernen zu denken wie sie. Darum wollte er ihren Wein trinken und ihre Lieder singen. Dass er bei diesen Lessons so nebenbei auch seinen Kummer ertränken konnte, war ihm nur recht. ’s Herz von an echten Weana, dargeboten von einemSänger aus Österreichs Hauptstadt, brachte ihn dann auf eine Spur, oder eigentlich erst einmal auf eine Idee. Er verstand ja nur das Wort Herz, aber in Verein mit der optimistisch klingenden Melodie reichte das, um einen Gedanken in sein eigenes Herz zu legen. Er würde sich von seinem Herzen leiten lassen. Ja, das war ein guter Plan. Sein Herz würde Richard finden. Nur die Liebe wäre dazu imstande. Und so begann er Lieder singend durchs Land zu ziehen und war sich sicher mit jedem Schritt Richard näher zu kommen.

Blondels Herz fühlte sich verständlicherweise zum Herzen des mutigen englischen Löwen hingezogen. Aber was ist weiter geschehen? Was ist dann passiert? Warum erzählt man sich in Österreich und England, und allen Ländern, die dazwischen liegen, Blondels Geschichte bis zum heutigen Tag? Die Antwort auf diese Frage begann man erst in den 1960er-Jahren zu verstehen, als wieder englische Sänger auf Blondels Spuren wandelten. Vielleicht hatte es auch etwas mit den Kopfhaaren der Protagonisten zu tun. Wenn ein kreuzziehender Krieger mitten im zwölften Jahrhundert fern der Heimat und fern aller Barbiere übers Land zog, wuchs nicht nur das Heimweh in seinem Herzen, es wuchs auch sein Kopfhaar einschließlich des Bartes. Darum sah Richard bald aus wie ein ungekämmter Löwe. Ob also Löwenherz ein Ehrenname war, bleibt aus dieser Sicht zumindest fraglich. Und seine Mitreisenden werden auch nicht viel besser aus ihren Rüstungen geschaut haben. Und einer dieser Mitreisenden war der Sänger Blondel. Wenn ein unfrisierter Sänger, sagen wir, durch Deutschland zieht und sein Lied singt, beginnen die Leute sofort zu klatschen. Augenblicklich beginnen alle wie auf Kommando zum Rhythmus des Liedes zu klatschen. Daran erkennt der Künstler, dass er in Deutschland ist. In Österreich ist das nicht so, da klatscht man erst nach Beendigung der Gesangsvorführung, dann aber auch nur, wenn das Lied gefallen hat. Dass das englische Wort Mähnia von der Haarpracht abgeleitet ist, darf an dieser Stelle behauptet werden. Sicher ist nur, dass der Sänger Blondel in Österreichs Landen berühmt wurde. Und wenn in unserem Land jemand berühmt ist, geht es ihm gut. Er muss seine Zeche nicht mehr selbst bezahlen, er wird von Tafel zu Tafel, von Fest zu Fest gereicht. Zwischen Wenia, dem heutigen Wien, und Treisma, dem heutigen St. Pölten, wo damals das Kloster des Heiligen Hippolytus stand, gab es eine richtiggehende Blondelmania, wie das Wort heute geschrieben wird. Es öffneten sich ihm alle Tore, überall wurden für ihn Tische gedeckt, sodass niemandem der wahre Grund für seine Österreichtournee auffiel. Blondel suchte Richard mit seinem Herzen und seinem Lied. Er sag sein Lied nicht nur in Gasthäusern, er sang es praktisch überall, vor Kerkermauern, vor den dicken Mauern der stattlichen Burgen, überall, wo man Richard Löwenherz gefangen halten konnte. Der Text war situationselastisch, die Melodie nach einer alten englischen Weise, die außerhalb Englands damals noch niemand kannte.

What would you think if I sang out of tune.
Could you stand up and walk out on me?
Lend me your ears and I’ll sing you a song
and I’ll try to bring you a key.

Genau die richtigen Worte für einen gefangenen englischen König. Aber nirgendwo hörte Blondel das erhoffte Echo: Kein Aufschluchzen hinter Gitterstäben, kein Aufjubeln hinter Steinmauern, nicht an der Wien, nicht an der March, nicht im Wienerwald, nicht am Wagram, nirgendwo. Bis er sich entlang des Nordufers der Donau durch die Wachau zu fressen begann. Der Wein war hier besonders gut und Burgen gab es haufenweise, also kehrte der Sänger oft ein, um für eine gebratene Forelle und einige Becher Wein seine fremdländischen Gesänge darzubieten. Da geschah es. Eines Abends mitten im tiefsten Winter 1192/93 war er zum Herrn von Dürnstein, einem Kuenringer, gebeten worden, um ihm und seinen Gästen aufzuspielen. Aber was musste er dort sehen? Als er den Raum betrat, verschlug es ihm den Atem. Im durch etliche Feuer gut gewärmten Saal der ritterlichen Behausung saß der Kuenringer mit seiner Kuenringerin und einigen wohlgenährten Gästen und mitten unter ihnen, die fetten Finger tief in der wohlgefüllten Schüssel, den Becher mit einer Wachauer Köstlichkeit in Griffweite, Richard Löwenherz, der langgesuchte, entführte König von England. Blondel erhob seine Stimme und legte all sein Glück in die englischen Worte

What would you think if I sang out of tune.
Could you stand up and walk out on me?
Lend me your ears and I’ll sing you a song
and I’ll try to bring you a key.

Oh, you get free with a little help from your friend.

Answer to me and I’ll help my old friend.
Mm, you get free with a little help from your friend.
I’ll try to free you, my poor honored friend.

Schon während der ersten Worte hob Richard sichtlich gerührt seinen weinseligen Blick. Ihre Blicke trafen sich in der Mitte des Tisches, genau über dem Weinkrug, über den gebratenen Stücken vom Reh, den gebrühten Schweinswürsten, den geräucherten Donaufischen und den Brotkörben mit den bekannten Laibchen der Region. »Setz dich zu uns, treuer Freund!«, waren die ersten Worte, die Blondel aus dem Mund seines Herren und Freundes vernehmen durfte. »Iss und trink! Ich freue mich dich bei guter Gesundheit zu sehen«, waren seine zweiten. Aber dann erhob auch Richard die Stimme zu einem Gesang, den Blondel bis ans Ende seines Lebens nicht mehr vergessen sollte. Er sang nämlich den Refrain der englischen Weise, aber auf eine Weise, die Blondel als Waisen zurückließ. Richards Worte waren

I don’t need anybody. I`ve got everything that I love.      Wine and meat for my body. I need no key – so piss off.

Blondel war wie vom Schlag gerührt. Er brauchte lange, um zu verstehen. Dann aber wandte er sich mit traurigem Blick von Richard ab und schluchzte im Weggehen:

I’m so tired, I haven’t slept a wink.
I’m so tired, my mind is on the blink.
I wonder should I stay here and help my king to drink.

No, no, no!

I’m so tired, I don’t know what to do.
I’m so tired, my mind is tired too,

um dann sein Medley mit einem damals nur auf der britischen Insel bekannten Volkslied fortzusetzen:

I’m a loser.
I’m a loser.
And I’m not what I appear to be.

Of all the guys I have won, and have lost,
There is one man I should never have crossed.
He was a man in a million, my friend.
I should have known he would win in the end.

I’m a loser,
And I lost someone who’s near to me.
I’m a loser,
And I’m not what I appear to be.

Noch lange hallte seine klagende Stimme durch die Straßen des verschneiten Ortes.

Although I laugh and I act like a clown,
Beneath this mask I am wearing a frown.
My tears are falling like snow from the sky.
Is it for him or myself that I cry?

I’m a loser,
And I lost someone who’s near to me.
I’m a loser,
And I’m not what I appear to be.

Alleine und von der Welt unbemerkt kehrte der Sänger Blondel heim nach England, ohne Kriegsbeute und vor allem ohne seinen König. Dieser wurde bald danach dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Heinrich VI., ausgeliefert, der ihn ein Jahr lang auf der Reichsburg Trifels oberhalb von Annweiler, im südlichen Pfälzerwald, festhielt. Dort hörte man bisweilen Richard mit brüchiger Stimme und mit Wehmut im Löwenherzen:

What have I done to deserve such a fate?
I realize I have left it too late.
And so it’s true pride comes before a fall.
I’m telling you so that you won’t lose all.

I’m a loser,
And I lost someone who’s near to me.
I’m a loser,
And I’m not what I appear to be.

Und niemand klatschte.

In den Himmel wachsen

Es war einmal vor langer Zeit, als es noch keine Wälder gab, als sich der Mond noch drehte und der Himmel noch klar war, ein wunderschönes Blümchen. Es stand mit anderen Blumen auf einer großen Wiese. Jeden Morgen sah es die Sonne aufgehen, sah sie zu Mittag hoch über sich und abends, wenn es kalt wurde, weit hinter dem Hügel untergehen. Das Blümchen durfte jeden Tag, den es erlebte, über die Schönheit der Welt staunen. Als junges Pflänzchen lag es an den warmen Frühlingsboden geschmiegt und freute sich jeden Morgen auf die Strahlen der Sonne. Als es älter wurde und erblühte, war seine Schönheit so groß, dass Käfer und Bienchen und sogar die großen dicken Hummeln von weit her geflogen kamen, um es zu bewundern. Seine Blüte strahlte goldgelb wie die Sonne selbst. Und wie die Sonne war sie nur tagsüber zu bestaunen. Nachts lag sie verborgen in einem großen grünen Kelch.

Eines Tages aber kam es dem Blümchen so vor, als ob sich seine Blüte nicht mehr so leicht öffnete wie sonst. Falten zeigten sich auf den Blütenblättern und es glaubte auch zu bemerken, dass die Farbe nicht mehr so leuchtete wie am Tag zuvor. Da wurde unser kleines Blümchen nachdenklich. Was hatte das zu bedeuten? Wurde es etwa alt? Nein, alt und schwach wollte das Blümchen nicht werden. Nachts weinte es deswegen heimlich. Noch am Morgen danach konnte man winzige Tröpfchen auf den Blättern sehen. Sie sahen zwar aus wie Tautröpfchen, doch es waren bitter geweinte Tränen. Eines Tages, als seine Verzweiflung besonders groß war, schluchzte es laut: »Muss ich denn wirklich vergehen? Kann mir denn niemand helfen?«

Da war ihm, als ob es ein leises Geräusch hörte, das noch nie auf der Wiese zu hören war. Es schien von den Höhen des Himmels zu kommen und näherte sich langsam. War das ein Klang von Glöckchen, war es ein Säuseln des Windes? Es verhieß Gutes und senkte sich direkt auf unser trauriges Pflänzchen nieder. Ein wunderschönes, Feen gleiches Wesen mit durchscheinenden, glitzernden Flügeln hatte sich zu unserer Blume gesellt. »Wer bist du?«, fragte diese schüchtern. »Ich bin Elle. Ich habe deinen Ruf vernommen. Was bedrückt dich, wie kann ich dir helfen?« – »Lieb’ Elle«, sprach die unglückliche Blume, »lieb’ Elle, hilf! Ich mag nicht vergehen. Ich will leben, ewig leben.« – »Das Leben«, sagte Elle, »das Leben ist ewig. Du darfst dem ewigen Zirkel vertrauen. Das Samenkorn, das in dir wächst, wird dein Leben weiter tragen. Die Blume, die im nächsten Jahr an deiner Stelle erblühen wird, trägt dein Leben in sich. Das Leben ist zum Leben gemacht, es vergeht nicht!« – »Aber ICH werde vergehen, ich! Gibt es denn keinen Weg, der am Sterben vorbeiführt?«

Da bekam die liebe Elle Mitleid mit dem todtraurigen Blümchen und sprach: »Es gibt einen Lebensweg, der dich bis zum Punkt des Erkennens bringen kann. Er wird dich in den kalten Winter hinein führen, durch ihn hindurch und wieder hinaus in das nächste Lebensjahr. Und weil es ein so langer Weg ist, wirst du erst nach hundert Jahren am Ziel sein. Du wirst Mut brauchen, aber am Ende werden dir die Augen aufgehen. Diesen Weg nennt man den Holzweg. Du wirst ihn wohl gehen müssen.« Nach diesen Worten erhob sich Elle in die Luft und entschwebte. Das Blümchen aber blieb voll Hoffnung zurück. Und der Tag war auf einmal hell und warm.

Es kam der Herbst und die vielen Blumen auf der Wiese gingen zu Grunde. Ihre Blätter verwelkten und sie sanken nieder. Nur unser Blümchen stand aufrecht, wie es im Sommer gestanden war. Es verlor zwar auch seine Blätter, seine Blüte war längst verwelkt und die Samen verstreut, aber in seinem Stämmchen hatte sich, wie von der lieben Elle prophezeit, Holz gebildet, hartes widerstandsfähiges Holz. Der Winter war lang und kalt. Doch unser Bäumchen, wie wir es jetzt besser nennen, verspürte davon nichts. Es schlief. Es schlief so tief, weil ihm fast alle seine Teile abgestorben waren. Nur eine ganz dünne Schicht in seinem Stämmchen blieb lebendig. Im Frühling, als Schnee und Eis tauten, ließ diese Schicht neue lebende Teile entstehen. Das Bäumchen auf der Wiese war nun größer und stärker als im Jahr zuvor. Das Holz erwies sich als gute Sache. Das neue Frühlingsholz brachte frisches Wasser aus dem Boden zu den neuen Blättern und das alte Holz, das im Winter abgestorben war, hielt das Bäumchen aufrecht. Und weil es nun größer war, konnte es seine Blätter über alle anderen Pflanzen halten und nahm sich so viel Sonnenlicht, wie es wollte. Ja, es war herrlich so groß zu sein. Der Stamm verästelte sich und konnte viel mehr Blätter, Blüten und Früchte tragen als im Vorjahr.

Der Frühling verging, es kam der Sommer und der Herbst. Der nächste Winter war wie der davor. Kein Ende des Lebens war abzusehen. Lieb’ Elle hatte recht behalten. Die Jahre zogen ins Land und unser Bäumchen wurde ein stattlicher Baum. Bald reichte seine Krone fast bis zum Himmel. Seine Borke war rau und sein Stamm so dick, dass das innerste Holz schon vermodert war. Im Herbst wurden die Äste von den Stürmen zerzaust, einige brachen sogar ab, sodass es dem Baum angst und bang wurde. Der Baum war so groß geworden, dass die obersten Blätter Durst leiden mussten, weil es Wurzel und Stamm einfach nicht mehr schafften, genügend Wasser hoch zu pumpen. Alles war so beschwerlich. Der Baum war einfach zu groß geworden. Die Schönheit, die unser Blümlein für alle Zeit erhalten wollte, war längst dahin. Das Ende des Weges war erreicht. Da schlich sich die alte Angst zurück in den Stamm. Und wie am Ende seiner Jugendzeit wurde dem Baum ganz bang. »Lieb’ Elle«, rief er in seiner Not, »lieb’ Elle, komm zu mir!« Und wie vor vielen Jahren, als der Baum noch ein Blümlein war, hörte er einen Ton wie von Glöckchen im Wind, als sich Elle mit ihren Glasflügeln aus den lichten Höhen herabschwang. »Du hast mich gerufen, was darf ich dir tun?« Doch der Baum antwortete nicht, er blickte nur traurig. »Ich sehe schon«, die liebe Elle war voll Mitgefühl, »du befandst dich auf dem Holzweg und hast es nun erkannt. Selbst Bäume wachsen nicht in den Himmel. Du standst länger als alle anderen Pflanzen auf der Wiese. Aber nun ist es Zeit loszulassen. Das Licht, das dich ein langes Leben gestärkt hat, wird dich leiten. Die Luft, das Wasser und die Erde, die dich dein ganzes Leben lang versorgt haben, werden dich auffangen. Lass DICH einfach fallen!«

Da fasste der alte Baum Vertrauen und löste seine irdischen Wurzeln aus dem Grund. Dabei fand er sich in schönstem Einklang mit der ganzen Welt. Alle Unterschiede waren aufgehoben. Der Boden, die Luft, der Sonnenstrahl, die Pflanzen und die Tiere, alle waren eins mit ihm. Und er war eins mit allem. Keine Angst, kein Schmerz, kein Sterben mehr.

Die Kirche zu St. Stephan zu Wien,

eines der wichtigsten gotischen Bauwerke Österreichs,  ist seit 1365 Domkirche. Teile des spätromanischen Vorgängerbaues sind noch in der Westfassade zu sehen. Mit seinen 136,40 Metern Höhe ist der Südturm der höchste der vier Türme. Sein Gegenstück, der Nordturm, wurde allerdings nie fertiggestellt. Waren es wirtschaftliche Ursachen, waren es religiöse? Eine Sage um Baumeister Puchsbaum, die man sich in Wien erzählt, gibt eine andere Antwort als die Historiker, welche den aufkommenden Protestantismus und die Türkengefahr als Gründe für den Baustopp anführen. Aber vielleicht war alles ganz anders …

Wo der Nordturm der Stephanskirche geblieben ist                                                                                                                                                     

Hans Puchsbaum besuchte wieder einmal seine Stadt. Es war ein Blitzbesuch im wahrsten Sinne des Wortes. Da er immer noch am Bauwesen interessiert war, überflog er schnell das Allgemeine Krankenhaus, schaute kurz am Krankenhaus Nord vorbei, bestaunte in Windeseile die Seestadt und suchte dann vergeblich Kaisermühlen, wo es ihm letztens so gut gefallen hatte. Er wird seine Suchrunden schon an der richtigen Stelle gedreht haben, wo aber war Kaisermühlen, so wie er es kannte? Kaisermühlen war aber nicht das Einzige, was ihm abging. Auf der Suche nach der Wiener Gemütlichkeit landete er schließlich bei einem Heurigen in Nussdorf. Und dort musste er lächeln, als ihm eine schmalzige Stimme mit »Heit kumman d‘ Engerl auf Urlaub noch Wean« einen Wurm ins Ohr setzte. Wie wahr, dachte er bei sich, wie wahr! Ja, die Wiener und ihre Vorstellungen vom himmlischen Hofstaat, das ist ein Kapitel für sich. Als er sich wieder der Innenstadt zuwandte, überraschte ihn die Menschenmasse, welche sich über den Graben wälzte, kaum noch. Er kam ja öfter auf Urlaub nach Wean, wenn auch in großen zeitlichen Abständen. Aber die unzähligen Schanigärten auf dieser Nobelflaniermeile ließen ihn doch staunen. Ja, fünfhundert Erdenjahre können Vieles verändern. Natürlich wusste er, dass der Stephansdom gleich um die Ecke stand, doch getraute er sich nicht gleich zu ihm hin zu schauen. Als er es dann aber doch tat, war er beruhigt. Der Südturm wies, so wie er es immer schon getan hatte, wie ein Zeigefinger himmelwärts und zwang die Blicke der Leute in seine Richtung. Die unzähligen Touristen, die um Hans herum wuselten, schnatterten in allen möglichen Sprachen und Dialekten, er aber stand stumm ergriffen vor seiner ehemaligen Wirkungsstätte. Wie schön diese Kirche doch war! Und wie sehr er sie liebte! Langsam ging er näher, freute sich am Interesse der Fremden an seinem Gotteshaus und lächelte zufrieden beim Anblick des Nordturmes. Da überholte ihn eine forsche junge Dame, welche einen großen gelben Schirm in ihrer Rechten hielt. Dieser war nicht einmal aufgespannt, dennoch hielt ihn die Frau hoch über ihren Kopf. Eine Schar erschöpft schlurfender Senioren folgte ihr. Die forsche Dame blieb stehen, drehte sich zu ihren Verfolgern um und wurde laut: »Sie werden doch sicher den Kölner Dom im Gedächtnis haben, oder den Regensburger. Gestern haben wir auch die Votivkirche besichtigt, erinnern Sie sich? Was fällt Ihnen beim Anblick der Stephanskirche auf?« Ohne eine Antwort der durch Wien geschleiften Alten abzuwarten schrie sie: »Richtig, diesem Bauwerk hier fehlt der zweite Turm! Der Nordturm wurde zwar nach den Plänen des damaligen Leiters der Dombauhütte von Sankt Stephan, Hans Puchsbaum, begonnen, aber nie fertiggestellt.« Hans Puchsbaum war plötzlich ganz Ohr. Das interessierte ihn brennend. »Die tatsächlichen Gründe dafür,« fuhr die Schreierin fort, »sind genau so langweilig wie unbekannt, daher werde ich die Sage kurz wiedergeben, welche man sich in Wien über diese betrübliche Angelegenheit erzählt.« Die gelb beschirmte Dame holte tief Luft, während der ehemalige Leiter der Dombauhütte den Atem anhielt. Was würde  jetzt wohl kommen?

»Als der Stephansdom fast fertig gebaut war«, begann sie die Erzählung, »als nur mehr der Nordturm fehlte, suchte der Stadtmagistrat einen Baumeister, der diesen Jahrhundertbau schnell und kostengünstig fertigstellen sollte. Es meldete sich ein gewisser Hans Puchsbaum oder Puchspaum oder gar Buxböm, da quellen die Quellen auseinander, vermutlich ein Gote, jedenfalls ein Meister der Gotik.« Die Seniorengruppe war froh ein bisschen rasten zu dürfen und lachte höflich. Und der verewigte Hans Puchsbaum hoffte auf keine weitere Goteslästerung, lauschte aber mit Interesse. »Puchsbaum bekam tatsächlich den Auftrag, vor allem da er anbot den Bau in der halben Zeit wie die Konkurrenz und zu den halben Kosten fertigstellen zu wollen. Die Mentalität des Magistrats und der Pegelstand in der städtischen Kassa ermöglichtn die Anstellung bedenkenlos. Wer von Ihnen jetzt an den Bau des Allgemeinen Krankenhauses oder den seines jüngeren Geschwisterls in Floridsdorf denken muss, wird auch diese Sage für wahr halten können. Also weiter im Text.« Die Reiseführerin führte offenbar Österreicher, da sich keine Spur eines ungläubigen Staunens in den Gesichtern der Leute abzeichnete. »Der neue, bisher ruhmlose Dombaumeister hoffte durch sein Tun Ansehen zu gewinnen, auch um dadurch den hochnäsigen Eltern seiner Freundin Maria zu imponieren. Letztere waren ihm, dem Unbedeutenden, bis dato nämlich nicht gewogen.«

Hans Puchsbaum stand der Mund weit offen. Wer hatte sich das ausgedacht? Für wie blöd wurde er von dieser Person gehalten? War das der Dank der Wiener für sein Wirken? Aber schon wetzte die flotte Rednerin wieder ihr Mundwerk: »Der Bau schritt zwar voran, aber langsamer als gedacht und auch nicht gerade billig. Da begriff der Baumeister, dass er sein Versprechen nicht einlösen konnte, und wurde mit jedem Tag verzweifelter und verzweifelter. Seine Maria, sein Ruhm, ja seine Ehre standen auf dem Spiel. Da bot ihm ein geheimnisvoller Fremder seine Hilfe an. „Ich weiß, welcher Kummer dich drückt, lieber Hans,“ sagte der hilfsbereite Mann zu ihm, „du erbarmst mir!“ Hans fragte, wer er denn sei, und der Mann sagte: „Wer ich bin, willst du wissen? Manche nennen mich Höllenfürst, andere heißen mich Teufel. Aber Namen sind doch Schall und Rauch“, hier soll der Fremde gelacht haben, „es ist doch wohl die Hauptsache, dass ich dir helfen werde deine Maria zu bekommen und hohes Ansehen unter den Leuten dieser Stadt und noch weit darüber hinaus.“ Wenn Sie sich wundern, meine Damen und Herren, woher man denn weiß, was damals genau gesprochen wurde, wundern Sie sich lieber nicht. Und was tat Hans? Er schreckte zurück. „Heb dich hinweg, du Schrecklicher, mit dir will ich nichts zu schaffen haben!“ Aber der Teufel hatte ihn schon am Wickel. „Willst du denn deine liebe Maria nicht zur Frau nehmen? Willst du mit Schimpf und Schande aus der Stadt getrieben werden?“ Da knickte der Baumeister ein. „Was verlangst du für deine Hilfe?“ Da trat der Teufel näher an ihn heran und sagte. „Ich verlange nicht viel. Du darfst nur während der ganzen Bauzeit weder den Namen Gottes noch den der Jungfrau Maria und auch den keines anderen Heiligen aussprechen, das ist alles.“ Für Hans schien das ein Leichtes zu sein und so schlug er ein.«

Puchsbaum schüttelte ungläubig den Kopf. Oder schüttelte er den Kopf, weil er gläubig war? Konnten sich diese Spötter nicht vorstellen, dass man eine Kirche aus ganz anderen Gründen bauen wollte? Seine Maria hatte ihn ohnedies geliebt und kein Teufel hatte je Einfluss auf die Meinung einer Schwiegermutter über den Bräutigam ihrer einzigen Tochter. Damals beschäftigte ihn ein ganz anderes Problem. Sein Kummer nährte sich aus einer ganz anderen Quelle. Man erwartete von ihm lediglich einen zweiten Turm zu bauen. Er sollte sein künstlerisches Talent und seine organisatorischen Qualitäten nutzen, um das zu tun, was vor ihm schon ein anderer in höchster Perfektion getan hatte. Er sollte den zweiten Turm errichten, den zweiten, nur den zweiten.

Da wurden seine Erinnerungen von der Stimme der Fremdenführerin unterbrochen: »Der Nordturm wuchs ab diesem Tag zusehends, alles klappte wunderbar. Puchsbaum konnte nun hoffen sein Werk in der von ihm versprochenen Zeit und zu den versprochenen Kosten vollenden zu können. Er sah sich schon als ehrenwerter, angesehener Ehemann seiner Maria. Durch den rasanten Baufortschritt hatte er am Bau aber so viel um die Ohren, dass er seine Angebetete in diesen Tagen kaum sehen konnte, darum war er hocherfreut, als er sie von seinem hohen Baugerüst aus über den Stephansplatz gehen sah. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt, also rief er voll Freude: „Maria!“ Aber kaum hatte er ihren Namen, der ja auch der Name der Mutter des Herrn Jesus war, ausgesprochen, schwankte das Baugerüst, auf dem er stand, krachte donnernd zusammen und riss ihn in den Tod. Markerschütterndes Hohngelächter war über den ganzen Platz zu hören und manche Leute wollten eine riesenhafte, teuflisch grinsende Gestalt gesehen haben, die über diesem schrecklichen Geschehen schwebte. Obwohl man den riesigen Trümmerhaufen des zusammengestürzten Gerüstes genau durchsuchte, fand man die Leiche des Baumeisters nicht. Der Bau des Nordturmes wurde daraufhin eingestellt und nie weitergeführt. Soweit die Sage. Erst im 16. Jahrhundert fand der gotische Torso mit der sogenannten „Welschen Haube“, einem Renaissancebau, einen Abschluss. Heute birgt der Nordturm die größte Glocke unseres Landes, die Pummerin.« Die Führerin war zum Ende der Sage gekommen, verbeugte sich artig vor ihren geduldigen Zuhörern, wandte sich zum Gehen  und verschwand mit ihren Verfolgern im Riesentor des Domes.

Jetzt geht sie hoffentlich beten, dachte Puchsbaum, der wie angewurzelt dastand, und wenn er nicht die Nutzlosigkeit der Aktion eingesehen hätte, wohl seine Knochen gezählt hätte. Ja, dachte er dann, so ist es mit der Ehre. »Aber mit dir habe ich es damals gut gemacht«, sagte er dann halblaut zu seinem Turm. »Nur hat es, wie ich jetzt hören muss, keiner verstanden. Aber gelungen ist es mir doch, wenn auch nicht zu meiner Ehre sondern zur Ehre des Höchsten«. Dann begannen seine Augen vor Freude über sein gelungenes Werk, den nicht fertiggestellten Turm, zu leuchten.

Wie würde der Stephansdom jetzt wohl aussehen, wenn Hans Puchsbaum sich damals nicht rechtzeitig besonnen hätte? Wie würde er aussehen, wenn er nicht die schriftliche Anweisung gegeben hätte, den Nordturm nach seinem Tode so zu belassen wie er war, nämlich offensichtlich unvollendet? Kann denn eine Kirche vollendet sein? Nein, keine steinerne kann das und die aus Menschenleben erst recht nicht. Und darum steht der Nordturm heute da als ein Sinnbild für die gesamte Kirche, unvollkommen und unvollendet wie die Menschen, aus denen sie besteht. Und der gesamte Stephansdom steht da als ein Gleichnis. Gleicht nicht der Südturm einem himmelwärts weisenden Zeigefinger? Und gleicht das Langhaus nicht den weiteren Fingern dieser mächtigen Hand? Und fehlt unter diesem  Gesichtspunkt der Nordturm? Nein, gewiss nicht! Ein zweiter Turm hätte die Gesamtidee bloß vernebelt. Das hatte der Baumeister erfolgreich verhindert. Das war sein nicht zu Stein gewordenes Werk.