DOMINO – Das Spiel der Frauen

Professor Wunderlich ist anders. Er hat keine Hemmung gnadenlos das Richtige zu tun. Ihn peiniget keine Schüchternheit, keine Zurückhaltung hemmt seinen Drang seine Mitmenschen an seiner Weisheit teilhaben zu lassen. Er ist eben wunderlich.

Aber zum Glück ist er keine reale Person. Er ist nur eine Erfindung von Alfred, einem Autor von Zeitungsglossen. Alfred selbst ist eher schüchtern und vermisst viele Eigenschaften seiner Kunstfigur schmerzlich.

Als eine Leserin der Zeitschrift auf Alfreds Glossen mit List und Raffinesse reagiert, kommt es zu einem charmanten literarischen Domino-Spiel zwischen den beiden, bei dem auch der kauzige Professor kräftig mitmischt.

Ein unterhaltsamer Roman zum Nach-Denken

Gefördert vom Land Niederösterreich und von der Marktgemeinde Langenzersdorf 

Als LESEPROBE die Kapitel  1, 2, 38, 39, 40, 45, 55. 64, 68.

Zeit im Spiegel, Freitag 20.2.

Professor Wunderlich erwacht                                             

»Guten Morgen, Wunderlich! Hast du gut geschlafen?« Professor Wunderlich lag in seinem Bett, und horchte mit geschlossenen Augen in den frühen Morgen. Das Schlafzimmerfenster war gekippt, darauf hatte er vor dem Schlafengehen geachtet. Er wollte am Morgen alles hören. Jedes noch so unbedeutend scheinende Geräusch wollte er wahrnehmen. Bellende Hunde, Klospülungen, eventuell Vogelgezwitscher, all das interessierte ihn. Waren da Kinderstimmen, hörte er Stöckelschuhe in der Wohnung über ihm, Autobahnlärm? Gab es ein frühmorgendliches Geklapper der Müllabfuhr? »Alles wunderbar, Wunderlich, alles zu meiner vollsten Zufriedenheit!« Was er tatsächlich vernahm, erfüllte ihn mit großer Freude. Leise Musik aus einer Nachbarwohnung. Eine Kaffeemühle tat ihre morgendliche Pflicht. Autotüren wurden zurückhaltend geschlossen. Eine ferne Schnellbahn fuhr an. Durch das geschlossene Fenster wäre sie nicht zu hören gewesen, das hatte er vor dem Zubettgehen getestet. Das Schlagen der Kirchturmuhr bezog er auf sich. »Es ist sieben Uhr, danke fürs Wecken. Ich stehe schon auf.« Erst jetzt öffnete der Professor die Augen, stieg aus dem Klappbett, übrigens dem einzigen Stück Möbel im Schlafzimmer und ging durch die leere Wohnung aufs Klo. Dieser Test war positiv verlaufen. Ja, er konnte sich vorstellen in dieser Wohnung jeden Morgen zu erwachen. Der Vermieter war zwar verwundert gewesen, als er von Wunderlichs Wunsch hörte, eine Probenacht in der total leeren Wohnung verbringen zu wollen, sah dann aber den praktischen Wert der Sache ein. Der neue Mieter hieß eben Wunderlich und schien auch ein bisschen so zu sein. Er brauchte keinen Autoabstellplatz, hielt keinen Hund und schien auch sonst keinerlei Umstände machen zu wollen. »Mir gefällt es hier. In der Platane vor der Loggia brüten Elstern. Das sind schöne Vögel, sie fliegen zwar wie Brustschwimmer ohne Fußtempi, aber sie sind gut gekleidet. Darauf sollten wir auch bei den anderen Nachbarn achten.« Professor Wunderlich liebte es mit sich selbst über Rede und Gegenrede zu verkehren. Was unsereins schweigend insgeheim im Oberstübchen abwickelt, führte er unter Einsatz aller Sprachorgane laut aus, selbst in Gegenwart von Ohrenzeugen. Und er sprach gerne mit sich selbst, konnte er dabei doch sicher sein erstens verstanden zu werden und zweitens adäquate Antworten zu erhalten. »Jetzt bin ich aber auf die Bewohner dieses Hauses gespannt.« Wunderlich entnahm seinem Koffer die Kleidungsstücke, die er am Abend davor säuberlich gefaltet hineingelegt hatte, zog sie an, holte aus seiner Reisetasche ein Stück trockenes Brot und ein großes Wasserglas, füllte Letzteres mit kaltem Leitungswasser und stellte sich damit auf die Loggia. Von hier überblickte er die ganze Wohnstraße. Wenn ihm die Nachbarschaft bei Wasser und Brot gefiele, wäre er bei einer Schale Kaffee, Toast und Schinken von ihr hellauf begeistert. Wunderlich war kein Psychologe aber darauf ließ sich wetten. Und die Kleidung der Hausbewohner brachte ihnen schließlich einen neuen Nachbarn ein: Professor Wunderlich.

                                                                                

Zeit im Spiegel, Freitag 27.2.

Professor Wunderlich stellt sich vor

Haben Sie eine Vorstellung welche Absicht hinter Wunderlichs Nummer mit dem Probeschlafen in der leeren Wohnung stecken könnte? War das etwa als Vorstellung für seine neuen Nachbarn gedacht, als ein Akt der Bekanntmachung, wollte er sich damit einführen? Seine Ankunft in der neuen Unterkunft war doch sicherlich nicht unbeobachtet geblieben. Es gab sicher Tratsch. Ja, es musste Tratsch geben. Seine unmittelbare Wohnungsnachbarin Frau Emma Wurmstingl, war Garantin dafür, das konnte er aber noch nicht wissen. Sie war ihm ja noch nicht vorgestellt worden.

Der Professor hatte von all seinen Mitmenschen ein phantastisches Bild, er nahm von ihnen prinzipiell nur Gutes an. Mutmaßungen über schlechte Eigenschaften stellte er nicht an. Er wollte ihnen nur Gutes und er vermutete von ihnen nur Gutes. In diesem Punkt verhielt er sich im juristischen Sinne absolut gerecht. Er war die personifizierte Unschuldsvermutung. Das letztgeschriebene Wort wird in der öffentlichen Diskussion zwar meist als Waffe eingesetzt, ist aber eigentlich eines der Grundprinzipien des modernen Rechtsstaates. »Der Begriff „Unschuldsvermutung“ geht, wie Sie vermutlich nicht wissen werden, auf den französischen Kardinal Jean Lemoine zurück«, belehrte Wunderlich unlängst einen Journalisten, bei dem das nötig war, »und meint, dass jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, solange als unschuldig anzusehen ist, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren nachgewiesen ist. Ein noch nicht verurteilter Rechtsbrecher darf keinerlei Nachteile erfahren, man darf aber vermuten dass er ein Gauner ist. Nur schreiben dürfen Sie das nicht.« Soweit der Professor im O-Ton. Worte hatten nun mal ihre Bedeutung und diese mutwillig oder aus Unwissenheit heraus zu verändern, war für ihn ein Sakrileg. In diesem wie in allen anderen Punkten war er ein äußerst korrekter Mensch. Und das bezog sich selbstredend auch auf seine Manieren.

Es ist leider aus der Mode gekommen sich seinen Mitmenschen geziemend vorzustellen. Doch Wunderlich gab nichts auf Modeerscheinungen. Was er für richtig hielt, tat er, was andere davon hielten, focht ihn nicht an. Und in dieser Beziehung hatte er keine Zweifel, was richtig war und was falsch. Es gab auch niemanden, der es für ihn hätte tun können. Also stellte er sich selbst vor: »Ich bin Wunderlich.« Stellen Sie sich vor, jemand stellte sich vor Sie und spräche >ich bin wunderlich<. Was dächten Sie? >In welcher Beziehung sind sie wunderlich?< wäre eine logische Frage als Antwort. Nicht wenige, die Wunderlich auf diese Weise verblüffte, reagierten auch so. »In welcher Beziehung sind Sie wunderlich?« – »Ich bezog die freistehende Wohnung im ersten Stock.« – »Das finde ich nicht verwunderlich,« bemerkte dazu ein junger Mann, der sich daraufhin als Peter Knoll bekannt machte. Er lebte mit Frau und Töchterchen in der Wohnung direkt unter Wunderlich. Seine Kaffeemühle kannte dieser schon. »Wir werden uns verstehen,« versprach ihm der Professor, »ich werde auf Ihre Bedürfnisse und Wünsche, so ich diese für gerechtfertigt erachte, Rücksicht nehmen, ich werde mich bemühen Ihnen nicht zur Last zu fallen und werde Ihnen, wo es mir nur möglich ist, Ihr Leben erleichtern.« Nicht nur Herrn Knoll und dessen Frau, auch allen anderen Hausbewohnern, bei denen sich Wunderlich auf diese Weise vorstellte, war am Ende des Tages klar, der neue Mieter war Wunderlich.

Es soll angeblich Dussel geben, die das erste Aufeinandertreffen mit ihrem Lebensmenschen gar nicht bemerken. Unglaublich eigentlich. Aber die meisten Menschen könnten, würde man sie um zwei Uhr nachts aus dem Tiefschlaf reißen, exakt den Tag und die Stunde und natürlich auch den Ort des ersten Zusammentreffens präzise nennen. So ist es auch bei mir. Und ich erinnere mich auch noch genau an die Empfindung die ich dabei hatte. Der 6. Juli dieses Jahres ist der Tag, 16:00 Uhr die Stunde und der Ort ist mein eigener Wohnort. Und noch jetzt, eine Stunde und 45 Minuten später, bin ich high.

Lisa. Lisa, was für ein Klang. Lisa, Lisa, was für ein melodischer Klang. Lisa, dieser Name liegt leicht auf der Zunge. Lisa. >The most beautifull word I ever heart – is Lisa, is Lisa, is Lisa, is Lisa!< Bernstein – West Side Story. >The most beautifull sound in a single word …< Ein wunderschöner Name, Lisa. Es war eine goldige Idee den Brief, der eigentlich an Lisa adressiert war, aber versehentlich in meinem Postkasten gelandet war, nicht einfach wegzuwerfen. Dabei wusste ich in dem Moment noch gar nicht um wen es sich bei Lisa handelte. Dass sie die Frau ist, die mir schon öfter beim Einkaufen über den Weg gelaufen war, konnte ich ja nicht wissen. Keine Sekunde hätte ich gezögert. Ist aber alles gut gegangen. Jetzt weiß ich wo sie wohnt. Im Rosenhaus. So habe ich ihr Haus bei meinen Spazierfahrten durch den Ort für mich schon genannt, Rosenhaus, wegen der prächtigen Rosensträucher im Vorgarten. Brav habe ich ihr den Brief übergeben. Eigentlich wollte ich ihn einfach ins Postkastl stecken, aber sie ist im Vorgarten gestanden wie eine Werbefigur für Gärtnereibekleidung, Holzschuhe, grüne Schürze über roten Jeans und weißer Bluse, die Gartenschere martialisch in der Rechten. >Sie haben Post für mich?< hat sie gefragt, als sie mich mit dem Brief in der Hand unschlüssig vor dem Gartentor stehen gesehen hat. >Ja,< habe ich geantwortet, >darf ich sie Ihnen geben?< Ja. Darf ich sie Ihnen geben? Wie schlagfertig!  Es ist ein Jammer mit mir. >Ja. Darf ich sie Ihnen geben? Winterlig, du bist ein Idiot!< Aber ein glücklicher.

Zeit im Spiegel, Freitag 10.7.

Professor Wunderlich liest die Post

>Sehr geehrte Frau<, stand in dem Brief ganz oben. Die meisten Firmen benutzen Vordrucke oder Computerprogramme, denen nicht auffällt, dass die Anrede >Frau< für einen Mann unpassend ist. Andererseits ist es nicht immer leicht aus dem Namen das Geschlecht einer Person herauszulesen. Es wäre sogar eine Überlegung wert, ob es richtig ist einen homosexuellen Mann mir >Herr< anzusprechen oder anzuschreiben. Diese Problemlage hatte zwar nichts mit Wunderlich zu tun, aber rein akademisch gesprochen ist es doch fraglich, ob jeder Mensch sich von seiner Anrede angesprochen fühlt. Das alles zu bedenken führte aber eindeutig zu weit, also las der Professor einfach weiter. >In Beantwortung Ihrer Anfrage bezüglich eines Kostenvoranschlages zur Fassadensanierung …< Wunderlich hatte keine Firma zu diesem Zweck angeschrieben. Jetzt erst besah er sich das Briefkuvert genau und las >An Frau Lore N.<. Außer dem Ortsnamen gab es keinerlei Übereinstimmung mit seiner Adresse und Lore N. war definitiv nicht sein Name. In letzter Zeit fand er oft fremde Post in seinem Postkasten. Meist waren es Kleinigkeiten, welche die Poststücke fehlgeleitet hatten, ein schlampig geschriebener Sechser der für ein kleines b gehalten wurde, oder es gab eine Verwechslung zwischen d und b. »Ist schon was Wahres dran an dem Slogan >die Post bringt jedem irgendwas<. Der Name Lore N. sagt mir nichts. Dieser Brief erscheint mir aber zu wichtig um ihn noch einmal der Post anzuvertrauen.« Seine Worte überzeugten ihn. So schwang er sich aufs Rad und strampelte die paar hundert Meter zum Haus der Adressatin. Im Vorgarten machte sich eine attraktive Dame an Rosen zu schaffen. Vom Sehen war sie dem Professor bekannt. Sie kaufte zur selben Zeit im selben Geschäft ein, anscheinend nur für eine Person, 10 dag Schinken, ein halbes Sonnenblumenbrot, einen halbem Liter Frischmilch. »Sie lieben Rosen?« sprach sie den berittenen Boten an, der vor ihrem Haus angehalten hatte, »Rosen sind der ideale Bewuchs für meinen Vorgarten. Jeder Prinz fühlt sich angeregt weiter ins Haus einzudringen, jede Memme wird abgehalten.« – »Stachelbewehrte Schönheiten halten mich nicht ab bis zum Postkasten vorzudringen. Ich fahre zwar mit keinem gelben Moped auf dem Gehsteig, bringe Ihnen dennoch Ihre Post. Genauer gesagt bringe ich Ihnen Ihre Post nach. Das gehört sich auch so, schließlich heißt >post< ja >nach<.« – »Und ich dachte das Wort Post wurde vom lateinischen >posita< abgeleitet, das auf Deutsch >festgelegt< bedeutet, was für die festgelegten Wechselstationen für Pferde stand.« Dem Professor blieb der Mund offen. Diese Frau hatte nicht nur recht, sie hatte auch die rechten Worte gefunden ihn zu beeindrucken. Wäre der Postausträger jetzt mit seinem Gehsteigfeger um die Ecke gebogen, er hätte ihn umarmt. Das postpostalische Brieftauschen hatte er bisher in seiner gesellschaftspolitischen Bedeutung für die gutnachbarlichen Beziehungen unterschätzt. »Sie haben nicht nur recht, Sie haben auch die rechten Worte gefunden mich zu beeindrucken. Ich bin aber auch gekommen, um mich bei Ihnen zu entschuldigen. Ich hielt diese, in meinen Postkasten geworfene Sendung, für an mich adressiert und habe sie geöffnet.« Wunderlich übergab den Brief. »Das ist ein Angebot Ihre Fassade zu verschönern. Ich halte Ihre Fassade übrigens nicht für sanierungsbedürftig.« – »Sie verstehen es eindeutig zweideutig zu sprechen. Nun ist es aber an mir mich zu bedanken, für das Angebot meine Fassade zu verschönern und für das Kompliment, dass es nicht nötig sei. Ich muss gestehen, Sie verwirren mich, Herr…« – »…Wunderlich.« – »Dann ist das allerdings nicht verwunderlich!« 

Schon als ich ein kleiner Bub war, hatte meine Welt ganz eigene Farben. Eigentlich nicht verwunderlich, ich hatte sie mir ja in meinen Tagträumen selbst ausgemalt. Da gab es das Blau für das weite Meer. Mein Meer war so weit, dass kein Mensch, nicht einmal der mit den schärfsten Augen, das andere Ufer sehen konnte. Und da gab es das Blau für den Himmel. Mein Himmel war nicht nur Fahrtstraße für die viermotorigen Flieger, die an wolkenlosen Tagen mit tiefem Brummen so hoch dahinzogen, dass man nur mit Mühe die Anzahl ihrer Propeller feststellen konnte. Nein, der Himmel barg auch alle Geheimnisse, welche meine Kinderaugen nicht erfassen konnten. Ich rede jetzt vom Christkind und seinen Engeln. Und da war noch das Blau meiner gutgläubigen Augen. Mir konnte man alles erzählen. Erst Jahre später ist mir aufgefallen, dass die Regenbögen anderer Kinder bunter waren. Mir aber genügten die unzähligen Stufen meiner Farbe zwischen dem wasserhellen Duft junger Veilchen und dem dunkelschattigen Gefühl tiefer Trauer.

Nun bin ich längst kein Kind mehr, habe im Laufe der Zeit meine Palette mit Rot und Grün und Gelb und noch vielen anderen Buntheiten des Lichtes erweitert. Aber habe ich in den Höhen des Himmels, in der Weite des Meeres, in der Tiefe der Geheimnisse je gefunden, wonach ich mich am meisten sehne? Einmal, ein einziges Mal war ich ganz nahe dran. Ich hätte die Finger meiner Hand nur noch schließen müssen, habe aber gezögert. Und das Glück hat sich als Vogerl erwiesen, das fliegen kann wohin es will. Es könnte aber auch wieder zurückkommen, wenn es nur will.

Und jetzt träume ich wieder. Träumen ist schön.

Zeit im Spiegel, Freitag 31.7.

Professor Wunderlich besucht ein Konzert

Es waren noch zwanzig Minuten bis zum Beginn. Der Professor liebte es zeitgerecht auf seinem Platz zu sitzen. Es war immer derselbe Platz. Wunderlich hatte schon seit Jahren ein Abo. Das brachte ihn regelmäßig zu guter Musik. Ohne Abonnement hätte er sich sicher nicht so oft aufraffen können abends in Anzug und mit Krawatte in die Stadt zu fahren um klassische Musik zu hören. Dazu musste er sich eben selbst überlisten. Wenn er dann aber auf seinem angestammten Platz saß, war er froh dieses großartige Musikangebot angenommen zu haben. Der Goldene Saal war wie immer bis auf den letzten Platz besetzt. Viele Konzertbesucher kannte er vom Sehen, nicht nur die paar Promis, auch andere, die wie er seit Jahren die gleichen Sitze besetzten. Die Touristen stachen heraus. Sie blitzten mit ihren Kameras und waren meist underdressed. Aber das machte nichts. Sie genossen die Atmosphäre ganz besonders. Einige Schritte von ihm entfernt verkaufte ein Platzanweiser einer Dame ein Programmheft. Heute würde ein Wiener Mozartorchester Mozart spielen, was sonst. Dazu brauchte er kein Programm. Angaben zur Tonlage beziehungsweise die Nummerierung des Werks sagten ihm nichts. Er würde dem Wolfgang Amadeus seine Ohren leihen, wie tief dessen Musik dringen würde, ließe sich dann schon fühlen. Er war auch schon einmal eingeschlafen. Das war aber bei Herrn Schubert. Die Dame mit dem Programm drehte sich um, ließ ihren Blick über die Reihen schweifen, erblickte Wunderlich, lächelte erfreut und winkte mit dem Heftchen. Es war Lore N., Sie erinnern sich, die Dame, der der Professor die Post nachgebracht hat. Sie schien nicht in Begleitung zu ein. Ihr Platz war weiter rechts nur wenige Reihen vor seinem. Die Musiker hatten schon Platz genommen, die Streichinstrumente waren gestimmt, die Türen wurden geschlossen und dem Kunstgenuss stand nichts mehr im Wege. Der Dirigent holte sich seinen Auftrittsapplaus und Mozart wurde aus den Partituren gelassen. Ein älterer Herr in einer Loge links von Wunderlich entschlummerte fast augenblicklich. Das war immer so. Solange er nicht schnarchte, ließ ihn seine Frau gewähren. Der Professor musste an die Milchleistung von Kühen denken. Seit er vor vielen Jahren gelesen hatte, dass Musik von Mozart die Milchleistung von Kühen erhöhen soll, musste er ärgerlicherweise am Beginn jedes Mozartstückes daran denken. Versuchen Sie doch einmal in Zukunft bei Mozart nicht an die Milchleistung von Kühen zu denken. Es wird Ihnen nicht gelingen. Vielleicht schläft es sich bei Mozart auch besonders gut. Wissen Sie wie Schlaf und Milchproduktion zusammenhängen? Wunderlich wusste es nicht. Er blickte nach rechts vorne und musste lachen. Es war aber auch zu nett. Lore N. schlief. Ihr Kopf war leicht nach rechts geneigt und ihre Brust hob und senkte sich im Takt der mozärtlichen Bratschenstriche. Wunderlich hatte schon Babys schlafend erlebt. Das war meist ein erfreulicher Hörgenuss, weil sie ruhig waren. Niemand mit Verstand würde sie wecken. Die schlafende Lore weckte in ihm allerdings ganz andere Gefühle. Und sie selbst wurde von Applaus geweckt. Das Orchester hatte Mozarts Opus zu Ende gebracht. Obwohl es sich nicht um die kleine Nachmusik handelte, gingen viele aus dem Auditorium ausgeschlafen in die Pause. »Guten Morgen,« grüßte Wunderlich artig, »ich muss für Sie ein „post-Traum-atisches“ Erlebnis sein.« – »Und ausgerechnet Sie müssen mich beim Schönheitsschlaf erwischen. Könnten Sie das vielleicht vergessen?« Da waren sie wieder, die Kühe von Mozart. »Trinken wir, um zu vergessen. Darf ich Sie auf ein Gläschen Wein einladen?« Beim Wein sprach man von der Freude an guter Musik und woran man sonst noch Freude hatte. Und beide stellten fest, jeder für sich versteht sich, dass dieses Gespräch an einem Stehtischchen im Foyer des Musiktheaters das Beste an diesem Abend war, sogar besser als die sehr einfühlsam vorgetragene Musik. »Ich bin es nicht mehr gewöhnt, meine Empfindungen zu artikulieren. Seit mein Mann gestorben ist …« Sie war also Witwe. Wie sie weiter erzählte, wohnten ihre beiden Kinder nicht weit von ihr, lebten aber ihr eigenes Leben, das von dem ihren klar getrennt war. »Ich habe den heutigen Abend sehr genossen«, sagte sie am Ende der Pause. Sie wollte also nach dem Konzert nicht nach Hause begleitet werden. Der Professor hatte darin ohnedies keine Übung. Also war er zufrieden. Gleich morgen würde er sich aber eine Aufnahme dieses Mozart-Stückes besorgen, schließlich hatte Lore in seiner Gegenwart dazu geschlafen, rechts neben ihm.

Zeit im Spiegel, Freitag 4.9.

Professor Wunderlich besucht eine Dichterlesung

»seltsam mutet mich der hohlweg in dumpfer regung der kapaun                             im scheine meines geistes totem werd ich dich niemals wieder schaun«

Die letzten Verse des Gedichtes hatte sie, ergriffen von der Tiefe ihrer eigenen Gedanken, nur mehr gehaucht. Verena Grimms-Bechernot las auf Einladung des Kulturvereins aus eigenen Werken. Sie war eigens für diese Veranstaltung aus Börlingen angereist. Als das Auditorium registrierte, dass nichts mehr kommen würde, was schwer zu raten war, da die Ergriffene die letzte Silbe auf den Lippen reglos verharrte, setzte verhaltener Jubel ein. Dr. Karl-Gustav Schablonsky, der Generalsekretär der örtlichen Dichtervereinigung, näherte sich der Wortgewaltigen voll Ehrfurcht, einen Strauß Blumen in der Linken, die Rechte bereit die Schreibhand der Poetin zum Kuss an seinen Mund zu führen. »Wenn er jetzt zupackt, ist ihre Ergriffenheit echt.« Zu Wunderlichs Erleichterung zeigte sich Lore nicht begeistert. Sie hatte ihn zu dieser Lesung mitgenommen und Letzteres war er jetzt auch. Frau Lore N. war Mitglied der Dichtervereinigung, das heißt sie schrieb hin und wieder ein paar Zeilen, meist in Prosa, besuchte aber die monatlichen Dichterlesungen regelmäßig. Heute hatten sie zwei Lyrikerinnen gehört und  einen Herrn, der Kurzprosa zum Besten gab. >Zum Besten< ist eine Floskel. In seiner vermutlich autobiografischen Schrift kehrte er sein Innerstes nach außen und sein Äußestes unter einen Klangteppich aus Blätterrauschen. Der Professor wandte sich an seine Begleiterin »Darf ich einmal eines Ihrer Werke lesen?« Er erwartete von Lore, nach allem was er bisher von ihr zu hören bekommen hatte, Witz, Esprit und mutige Meinungen. »Gern,« entgegnete sie auch gleich, »ich werde Ihnen einmal einen Text mitbringen. Sie werden sich aber vielleicht fragen, nach den qualitativ durchmischten Darbietungen, die wir heute gehört haben, was mich immer wieder hierher zieht. Hier meine Antwort. Wer auch immer hier liest, darf sicher sein, auf ein aufmerksames Publikum zu stoßen. Wer auch immer hier liest, darf auf Kritik hoffen, die sich auf das Werk bezieht, die sachbezogen ist. Wir sind den Kolleginnen und Kollegen gegenüber tolerant und begegnen ihnen prinzipiell freundlich. Mit den Jahren hat schon so manch eine und so manch einer dazugelernt. Und da ist noch etwas. Um Poeten unserer Qualität reißt sich kein Verlag. Darum geben wir selbst jedes Jahr ausgewählte Werke als Anthologie heraus. Dann erscheint unser Werk im Druck. Für Unsereins ist das schon was.« – »Und da kann man dann >im Scheine meines Geistes Totem< lesen? Ergeben diese Worte gedruckt mehr Sinn als gesprochen? Wird unter Druck daraus Kunst?« – »Ja, eindeutig ja, denn Papier ist geduldig. Und für den anderen Geduld aufzubringen ist eine Kunst, die ein gedeihliches Zusammenleben erst möglich macht.« Schön langsam kam dem Professor der Verdacht, dass ihm diese Frau gewachsen war.

Violett und blau und grün und gelb und rot und rund spannt er sich von einem Ende bis zum anderen. Er ist der prächtigste Regenbogen, den ich je zu Gesicht bekommen habe. Wir waren nicht nass geworden. Der große Schirm barg uns beide in seiner blauen Rundung. Wären wir nur zu zweit auf dem regennassen Pfad unterwegs gewesen, hätte unsere Nähe zueinander gewisse Deutungen zugelassen. So aber gingen wir in einer langen Reihe von Regenschirmen aller Farben. Glücklicherweise hatte sie ihren Schirm zu Hause vergessen. Die anderen, jetzt wieder zugeklappten Schirme wurden von den Mitgliedern des Kulturvereins getragen, die ihren monatlichen Jour fixe zu einem Spaziergang über unseren Hausberg zu einem Heurigen nutzen. Ein Tiroler hätte diese Erhebung vermutlich nicht als Berg identifiziert. Seine 188 Meter relativer Höhe lassen ihn eher als Hügel erscheinen. Doch sollte man ihn von seiner Bedeutung her nicht unterschätzen. Dieser Hügel, oder bleiben wir lieber beim Begriff Berg, erhebt sich nämlich genau da, wo die Ostalpen beginnen. Und natürlich beginnen die Alpen ganz klein. Wer etwas anderes erwartet, hat keine Ahnung von Gebirgen. Es würde ja auch niemand, der in der Welt herumgekommen ist, behaupten wollen, Lignano läge nicht am Meer, nur weil sich das dortige mehr als seicht-warmer Tümpel präsentiert. Wandererlustige aus der ganzen Gegend schätzen diesen Berg wegen seiner Erreichbarkeit, nicht unbedingt wegen seiner Höhe. Außerdem lockt die Einzigartigkeit seiner Fauna und Flora. Hier hat man die meisten verschiedenen Bienenarten des Landes gezählt und da haben wir noch gar nicht von Schmetterlingen oder Wanzen gesprochen. Wer noch niemals den Waldsteppen-Wermut, den Pannonien-Pippau oder das Sommergrün-Immergrün gesehen hat, wird sie hier zwar auch nicht erkennen, kann aber sicher sein auf dem Weg zum Heurigen auf der anderen Bergseite durch ein botanisch einmaliges Gebiet zu wandern. >Ich habe schon lange nicht mehr so ein gutes Grammelschmalz gegessen< seufze ich in Erinnerung an den kaum verdauten Genuss. Mit der Unterlage von zwei Vierterln Veltliner ist ein dick bestrichenes Schmalzbrot für meine Gallenblase kein echtes Problem. Lisa hat beim Heurigen weniger Deftiges zu sich genommen. Ein Vierterl Zweigelt lässt aber auch sie in guter Stimmung sein. >Seltsam mutet mich der Hohlweg – in dumpfer Regung der Kapaun. Wie um alles in der Welt sind Sie auf diese Verse gekommen?< – >Kapaun reimt sich auf schaun und Hohlweg hat zwei Silben, alles klar? Und unsinnig genug ist es auch.< – >Haben Sie nicht Sorge die Hobby-Dichter unter Ihren LeserInnen zu vergrämen?< – >Ich habe keine Sorgen, dass Professor Wunderlich irgendjemanden vergrämen könnte. Der hat Narrenfreiheit wie alle Satiriker. Wir sind ja schließlich in Österreich.< – >Und Sie? Wie frei sind Sie?< Ich finde es im Prinzip nett mit dieser Frau Wort-Domino zu spielen. Aber war ihre letzte Frage nicht verfänglich? >Es würde mich interessieren, wie Sie den Begriff Fangfrage definieren.< Jetzt war sie dran. Hoffentlich gehen ihr die Dominosteine nicht aus. >Eine Fangfrage ist wohl eine Frage, der man nicht mehr auskommt. Wie ein Matt beim Schach.< – >Hat das Schachspiel nicht den Tod des Königs zum Ziel? Was meinen Sie, ist die Königin dann frei oder ist das Spiel zu Ende?< – >Wenn das Spiel weitergehen soll, muss die Königin frei sein.< Ich will ihr das letzte Wort lassen.

Abends aber schreibe ich:         

Ich trug den flüchtigen Regenbogen                                                                       Tröpfchen für Tröpfchen für Tröpfchen nach Haus    um dessen Zauber zu bewahren.                                                                                       Hier leb ich den himmelsfarbenen Traum                                       vom Blau im Glanz ihrer Augen                                                              bis zum Abendrot ihres Mundes.

>Guten Morgen, ich hoffe, ich störe Sie nicht bei strategischen Überlegungen< eröffnet Lisa das unverhoffte Gespräch. Sie ist mir ganz unerwartet vor das Einkaufswagerl gelaufen. Der Ort ist mir aus gewissen Gründen peinlich. >Wäre das Märzen nicht vielleicht doch wichtiger?< – >Guten Morgen, Frau Normann. Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt.  Abgesehen von dieser Volksweisheit verstehe ich Ihre wunderliche Frage nicht.< – >Verzeihen Sie mir bitte meine kleine Spitze, es ist aber tatsächlich so, dass ich nicht immer zwischen Ihnen und dem lieben Professor zu unterscheiden weiß.< Das klingt nach ehrlichem Interesse an mir. In ihren Gesichtszügen ist nicht die kleinste Spitze auszumachen, alles ist wohlgefällig rund. >Sie lieben, wenn ich recht unterrichtet bin, Englisches Frühstück und dieser Wunderlich mag Erdnussbutter auf Vollkornbrot, oder?< – >Fast richtig. Meine wunderliche Seite mag Englisches Frühstück oder Vollkornbrot mit Erdnusscreme. Meine weniger wunderliche Seite ist mit einer Schale Kaffee und einem Kipferl zufrieden. Wie kann ich Ihnen das nur beweisen?< Für meine Verhältnisse ist das eine ziemlich forsche Ansage. Wieder der Lisa-Effekt. Ich muss zugeben, dass es mich ungemein freut, mit dieser Frau in diesem ungezwungenen Ton verkehren zu können. Sie sagt >Begleiten Sie mich einfach ins Cafe. Ich habe mir heute mein Frühstück für nach dem Einkauf aufgehoben. Mir sind nämlich einige Ingredienzien dafür wie Milch und Butter ausgegangen.< – >Da komme ich gerne mit, danke.< Bald sitzen wir an einem Kaffeehaustischchen, sie vor einem großen Frühstück mit dem Blick durch ein Fenster auf die Straße, ich vor einem großen Braunen mit dem Blick auf sie. So manch ein Gemeindemitglied macht große Augen. Und die Damenrunde im hinteren Bereich des Raumes hat ein neues Gesprächsthema. Wir beide sollten auch bald eines haben, aber ein äußerst anspruchsvolles, denn plötzlich dreht sich unser Frage-Antwort-Domino um Tieferes oder Höheres, je nachdem wie man es betrachten will. >Sie haben doch in Ihrer letzten Folge von Wunderlichs Alltagsphilosophien die Frage nach dem Glauben an die Wissenschaft beziehungsweise an Gott behandelt. Wie halten Sie es eigentlich mit der Religion?< – >Da stellen Sie mir die Gretchenfrage, während Sie sich eine Buttersemmel streichen? Dass meine Antwort unter diesen Umständen wie geschmiert kommen wird, kann ich Ihnen aber nicht garantieren.< – >Lassen Sie sich mit der Antwort ruhig Zeit. Ich weiß von Ihnen, dass Sie wissenschaftlich gebildet sind, man sieht Sie andererseits regelmäßig in der Messe. Woran glauben Sie, Herr Winterlig?< – >Wem ich vertraue, wollen Sie wissen?< Ich bin noch nicht warmgeredet. Soll ich jetzt zwischen einem Schluck Kaffee und einem „Guten Tag“ zu einem neuen Gast mein Innerstes zu äußerst kehren? >Ich überlege gerade, ob diese Frage nicht zu tiefgehend ist für dieses Kaffeehaustischchen um diese Tageszeit.< – >Und vertrauen Sie mir – das Ergebnis Ihrer Überlegung an?< Ich blicke Lisa an. Da ist kein Zucken in den Pupillen, keines um den Mund. Das ist kein Spielchen, das sie mit mir treibt. Ich glaube, ich darf ihr trauen. >Eigentlich komisch, da messe ich dieser Frage die größte Bedeutung bei und habe gleichzeitig Bedenken sie beim Frühstück zu besprechen. Wäre diese Frage nicht wert unter allen Umständen vorrangig behandelt zu werden?< – >Ja, eindeutig ja.< Ich atme auf. Wie diese Frau es versteht meine Gedanken zu entkrampfen. Sie sagt einfach „Ja“. Das genügt.

>Liebe Frau Normann, ich gebe in dieser Frage dem Professor Wunderlich völlig recht. Wir können kaum etwas wissen, darum müssen die Antworten auf die Fragen des Lebens einfach sein, meinen Sie nicht auch?< – >Na, dann geben Sie mir eine einfache Antwort auf meine simple Frage. Was ist der Sinn des Lebens?< Lisa legte die Buttersemmel aus der Hand. Ich habe ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Na, dann gebe ich ihr halt die einfachste Antwort, die mir dazu einfällt. >In einem wirklich klug geschriebenen Buch, zu meiner Schande habe ich vergessen, wie es heißt und wer es geschrieben hat, habe ich eine Antwort gelesen, die ich Ihnen jetzt als die meine anbiete. Der Autor meint, wir Menschen mögen erkennen, dass wir alle Geschwister sind. Und Geschwister sollen einander lieben!<

Wir sitzen lange nebeneinander und denken, so glaube ich, liebe Gedanken. Die Tassen sind bald leer, Lisas Buttersemmel ist verschwunden und wir sitzen immer noch. >Um auf ihr Weltbild zurückzukommen, habe ich aber doch noch eine Frage.< – >Nur heraus damit. Soll ich noch Kaffee bestellen?< – >Ja, bitte. Woran denken Sie, wenn Sie das Wort Gott aussprechen?< Ich bitte eine vorbeieilende Kellnerin pantomimisch um zwei weitere Tassen Kaffee. >Was immer ich dabei denke, ich weiß, dass es eine unzulängliche Vorstellung sein muss. Scio nescio.< Lisa hebt den Kopf und betrachtet versonnen die Zimmerdecke. >Mir kommen da die Worte in den Sinn, die Shakespeare seinem Hamlet in den Mund gelegt hat: „Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.“  Meinen Sie das so, lieber Herr Alfred?< – >Liebe Frau Normann, ich möchte auf das Wort Schulweisheit eingehen, weil es da etwas gibt, das ich ihnen noch nicht gebeichtet habe. Sie müssen wissen, ich hatte äußerst katholische Eltern. Und diese äußerst katholischen Eltern haben mir als Kind natürlich Jesus von Nazareth ans Herz gelegt. Das hat mich zweifellos geprägt. Und bis heute sehe ich in diesem Mann einen wunderbarer Lehrer. Er vergleicht Gott mit einem persönlichen, liebenden Vater. Ich beschreibe jetzt meine ganz persönliche Sicht auf die Dinge, Frau Normann. Ich frage mich nämlich, kann ich diesem Mann vertrauen? Offensichtlich kann ich das. Ich tu es ja. Und warum glaube ich an ihn? Als wissenschaftlich geprägter Mensch pflege ich doch Informationen auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen. Was überzeugt mich? Warum halte ich den Weg, den er uns zeigt, für gut?< Ich lasse diese Frage eine Kaffeeschlucklänge im Raum stehen. >Wie kann man denn wissen, ob ein Weg etwas taugt?< Lisa überlegt nur kurz. >Indem man ihn geht?< – >Richtig, das findet man nur heraus, wenn man ihn geht. Und sein Ziel erreicht man nicht dadurch, dass man den Wegweiser anbetet.< Ich mache eine kleine Pause und beobachte Lisas Reaktion. Sie sitzt entspannt neben mir. Kein Widerspruch ist erkennbar. Darum spreche ich selbst weiter. >Aber warum kann ich Jesu Bericht vom Wesen Gottes für wahr halten? Sie haben Hamlet erwähnt und seine Vermutung über ein Jenseits. Mir kommen dessen Worte eher spiritistisch als spirituell vor. Er hat den Geist seines verstorbenen Vaters gesprochen und spricht nun mit der hohen Vernunft, mit Hor-Ratio. In diesem Namen steckt ja Hor, der ferne Sonnengott der alten Ägypter und Ratio, der logischen Verstand. Der Dichter verweist auf Geheimnisvolles im Himmel und auf Erden, aber mir gefällt nicht, was er dazu verlauten lässt. Die Worte von Hamlets jenseitigen Vaters haben keinen himmlischen Klang. Sie klingen höllisch nach Rache. Und von Hamlets Seite vermisse ich ein „Verzeih ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“. Das wären Worte, die mir den Himmel öffneten. Sie klängen nach Liebe. Das gefiele mir. Auch ist es mir sympathisch an einen Gott zu denken, der als ein guter Vater angesprochen werden darf, der allezeit bei mir ist. Das versetzt meine Seele in Schwingung, lässt das Gute in mir klingen und nährt den göttlichen Funken in mir, die Freude. Insofern sind Jesu Worte über den himmlischen Vater stimmig. Ich glaube ihnen gerne.< – >Aber was ist mit der Vernunft< wagte Lisa einen Einwand, >spricht sie nicht eine andere Sprache?< – >Nein! Das Wort Vernunft kommt ja von vernehmen, erfassen, ergreifen. Und ergriffen bin ich. Freude, schöner Götterfunken …“ tönt es bei Schiller „…Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen …“ oder „… Ahnest du den Schöpfer, Welt?“ Ich glaube, Friedrich Schiller hat damit vollkommen recht.< Wir sitzen eine ganze Weile still nebeneinander und nippen hin und wieder synchron an unseren Tassen. Und da sich nun offenbar der Geist Schillers zu uns gesellt hat, sage ich leise >Ja, lieber Herr von Schiller, ich glaube, Sie haben recht.< Da breitet sich ein Lächeln über Lisas Gesicht aus. >Jetzt haben Sie es tatsächlich geschafft, meine Gretchenfrage an Sie von Schiller beantworten zu lassen.<